Gastbeitrag – Dr. Guido Rodheudt, Schützenkaplan – Pfingsten 2025
Ein ruhiger Sonntagabend im Sommer. Die Straßen von Herzogenrath sind wie menschenleer. Man bereitet sich in der typischen Langeweile des ausklingenden Wochenendes auf den Montag vor. Die einen liegen vor dem Fernseher, die anderen raffen schon einiges zusammen, was sie in der beginnenden Woche für ihre Aufgaben brauchen, die wenigsten sind vor der Türe, trotz schönen Wetters. Nur die Eisdiele und die beiden verbliebenen Kneipen sammeln vor ihren Türen noch Konsumenten.
Da naht der Klang einer Blaskapelle. Zunächst ist es der dumpfe Rhythmus der großen Trommel, später die Töne, die die Instrumente produzieren. Marschmusik begleitet den Zug der „Herrenschützen“ an ihrem Fest am ersten Julisonntag. Der Schützenkönig ist ermittelt und wird von den Mitstreitern, gekleidet im Stresemann und mit Zylinder behütet, durch die Straßen der Stadt begleitet. Es ist ein kurzer Zug, der im Wesentlichen aus den Schützen, dem Ehrenschützen, dem Bürgermeister und dem Schützenkaplan besteht, musikalisch in Form gebracht durch die Mitglieder der Harmonie St. Cäcilia und eskortiert von einem mit Blaulicht blinkenden Streifenwagen der Polizei.
Schaulustige gibt es keine. Obwohl der kleine Lindwurm etwas Augenfälliges an sich hat. Man wähnt sich im neunzehnten Jahrhundert im Angesicht der antiquiert ausstaffierten Herren. Der Schützenkönig grüßt dennoch tapfer mit schwenkendem Zylinder allen entgegen, die per Zufall einen Blick auf den Zug werfen: angehaltenen Autofahrer an der Kreuzung und Menschen hinter Fenstern mit zurückgezogenen Gardinen, die die Neugierde vom Sofa geholt hat. Sie winken freundlich zurück. Für einen Moment blitzt so etwas wie Freude an Wertschätzung durch einen Monarchen auf – auch wenn er nur durch sein Geschick an der Armbrust seine Würde erlangt hat.
Einige wenige Kinder sind noch auf der Straße. Erkennbar ist ihnen die Schützen-Tradition unbekannt. Sie sind diejenigen, die als einzige an dem kleinen Schauspiel ein größeres Interesse entwickeln, das für ein paar Minuten eine Abwechslung in die ansonsten verschlafene Innenstadt bringt. Sie winken dem Schützenkönig zurück, laufen und hüpfen am Straßenrand mit, ohne allerdings zu wissen, daß es sich nicht um den Berufsverband der Schornsteinfeger, sondern um die Mitglieder einer beinahe achthundert Jahre alten Vereinigung handelt.
Das Szenario ist sprechend. Denn das, was die St. Sebastiani Armbrustschützen-Gesellschaft anno 1250 Herzogenrath ausmacht, findet nur noch schwer eine griffige Bedeutung im Leben ihrer vor über fünfzig Jahren am Reißbrett zusammengeschraubten Stadt. Die lange Geschichte und die vielen kleinen und großen Details zu Personen der Gesellschaft, ihrer Lebensart und einigen ihrer Lebensorte, die im Jahr 2025 in einer von Paul Akens verfassten Schrift gesammelt wurden, alles, was im Laufe der Jahrhunderte das Wirken der Schützen bestimmt hat, ist auf das Binnenverhältnis der Gesellschaft zurückgeschrumpft. Damit teilt sie das Schicksal vieler Traditionsvereine, deren Quellgrund versiegt ist: die geschlossene Gesellschaft. Es gibt keine feste Bürgerschaft der Kleinstadt mehr, in der und für die sie einst gegründet wurden. Der Bekanntheitsgrad ist dementsprechend in der durch die extreme Mobilität der gegenwärtigen Zeitläufte permanent durchgerüttelten Bevölkerung ausgesprochen gering.
Geschichte, traditionsverbundene Kultur, gesellschaftliche Standards tun sich schwer in unserer von Digitalisierung und Schnelllebigkeit geprägten Gegenwart. Das, was überkommen ist, empfindet man als anachronistisch und belegt es mit dem Begriff „aus der Zeit gefallen“. Man apostrophiert damit alles, was nicht unmittelbar der Zeit entstammt, in der man gerade lebt. Vereine, Kirchen und Veranstaltungen die, sich in ihrer Gegenwartsbedeutung aus ihrer Herkunft definieren, teilen das Schicksal einer Zwangsmusealisierung. Sie sind noch da, aber als Ausstellungsstück.
Die lange Kette an Schilderungen von historischen Bezügen der Schützengesellschaft, die aktuell auf 775 Jahre ihres Bestehens schaut, bestätigt den Eindruck, dass sich ein Bedeutungswandel vollzogen hat, der die Gesellschaft in den Status einer Konservierung gebracht hat, der historisch für die Stadtgeschichte interessant, für das Leben in der Stadt jedoch keine spürbare Bedeutung hat.
Und dennoch: trotz dieses Befundes, dem sich alle stellen müssen, die im Ranking der Wichtigkeiten einer urbanen Gesellschaft abgehängt worden sind, gibt es eine Form von Gegenwartsanalyse, die davor bewahrt, in die große Depression zu geraten. Denn das, was äußerlich betrachtet wie aus der Zeit gefallen wirkt, kann sich mit dem nötigen Mut und einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Herkunftstreue als das reine Gegenteil erweisen. Nämlich als etwas, das gerade angesichts der wechselnden Zeitumstände, in denen wir leben, brotnötig ist. Es ist die Dokumentation dessen, was zwar äußerlich vergangen ist und dessen tagesaktuelle Wirkung marginal geworden ist, das sich aber in seinem Kern als haltbar und deswegen zukunftsfähig erweist, gerade weil es nicht aktuell sein will.
Die St. Sebastiani Armbrustschützen-Gesellschaft anno 1250 Herzogenrath ist damit dispensiert, Menschenmassen an den Straßenrand zu locken, um ihrem Schützenzug zuzujubeln. Es genügt, in Treue zu den Grundsätzen der Gesellschaft der Tradition des Schießens zu dienen, das ja bekanntlich auch heute nicht wenige Menschen bewegt, dabei am Fuchsberg zuzuschauen.
Wenn dann nach dem Vogelschuss der kleine klingende Trupp durch die einsamen Straßen zieht, bekundet dies das durchaus bemerkenswerte Beharrungsvermögen, das Traditionen haltbar macht und in dem sie „in“ die Zeit fallen, um ihnen von etwas zu erzählen, das sie hervorgebracht hat.
Es macht deswegen gerade Freude zu sehen, wie die Kinder, deren Herkunft mitnichten in dieser Stadt und ihrer Geschichte zu suchen ist, sondern in ganz weit entfernten Kulturen, sich am Schützenzug erfreuen. Für sie ist er „in die Zeit gefallen“ und belebt mit dieser Überraschung den tristen Sonntag mit einer schönen Abwechslung, die plötzlich mit der Geschichte der Stadt verbindet, in die einen die eigene Geburt, die Flucht, ein Umzug oder der Zufall geworfen hat. Das geschichtsträchtige Schauspiel spricht davon, dass es mehr gibt als Alltage. Und dass es Gemeinschaften und Feierlichkeiten braucht, die den Unsicherheiten der Gegenwart durch die Sicherung der Herkunft ihre Schärfe nehmen. Nicht durch Nostalgie, sondern durch die Tradition, deren Gegenwartstauglichkeit darin besteht, das Leben vor dem Ausverkauf seiner Wurzeln zu schützen.